Weichensteller

Meine Liebe, meine Stille, meine Heimatstadt: Klaipeda.

Hier ist es so schön und behaglich, dass man jeden einzelnen Flecken Erde, als wäre es ein Bernstein aus der Ostsee, in die Tasche stecken und nie wieder verlieren möchte. So aufzubewahren, wie man seine teuersten Erinnerungen aufbewahrt. Und Du, mein Teurer, atme jeden Duft und halte jedes Bild fest, das du beim Wandern durch die wundersame Hafenstadt entdeckst, damit du von dieser Reise so viel wie möglich mit nach Hause nimmst. Höre auf mich Alten, ich habe viel gesehen und erlebt, daher weiß ich, was im Leben wichtig ist und was echtes Glück bringt.

Weißt du, was die Leute sagen? Der Mensch entdeckt sich selbst über seine Arbeit und wird selbst zu dieser. Jetzt sagt man das nicht mehr? Er lacht? Und mir ist das aber genau so passiert, ich bin Weichensteller. Was? Du meinst, von so einem Beruf hast Du noch nie gehört? Das klingt altertümlich? Vielleicht hast Du recht, ich bin ja nicht mehr der Jüngste, aber ich muss sagen, dass dieser Beruf wichtig ist, auch wenn er am Aussterben ist … In meiner Jugend musste ich sehr aufmerksam sein. Ich änderte die Richtung der Züge, damit die Reisenden ihr Ziel erreichten. Und warum ich hier stehe, magst Du dich fragen? Denn genau hier wurde zum Ende des 19. Jahrhunderts der erste Schmalspurbahnhof im Memelland errichtet. Wenn Du wüsstest, wie viele Erinnerungen und angenehme Augenblicke meiner Jugend mit diesem Ort verbunden sind …

Ich stehe hier an diesem Kulturdenkmal aus Backstein, das an die alten Zeiten erinnert, als Züge aus der Umgebung von Klaipeda her in die Stadt fuhren, wo später die Schmalspurbahn sogar durch elektrische Straßenbahnen ersetzt wurde. Ha, Du glaubst nicht, dass es in Klaipeda Straßenbahnen gab? Fast 40 Jahre lang ratterten Straßenbahnen über 11 Kilometer Gleise und transportierten Personen und Güter.

Jeden Tag schaue ich dorthin, auf die andere Straßenseite, wo neben dem Bahnsteig eine alte Dampflok steht. Ich kann einfach nicht wegschauen, unsere emotionale Verbindung ist einfach zu stark … Oh, was für eine Erinnerungen, was für eine Nostalgie …

Ich, dieses seriöse und angespannte Männchen, stehe hier seit 2011, erschaffen von Klaudijus Pudymas. Dieser hat sogar meinen Bart wieder in Form gebracht, was mir Würde verleiht, und mir eine Uniform verpasst, wie sie die Eisenbahner in Ostpreußen tatsächlich trugen. Eine Hand unterm Revers, so habe und werde ich es immer halten. In der anderen Hand das Leuchtsignal, mit dem ich dem Lokführer Signale gab. Die Vision des Bildhauers, mich wieder zum Leben zu erwecken, ist edel, zur Erinnerung an Berufe, die langsam aussterben. Nicht nur Vertreter meines Berufes verschwinden, sondern auch Schornsteinfeger. Auch diesen Menschen hat der Bildhauer eine Erinnerung geschaffen, die Skulptur des Schornsteinfegers in der Altstadt, der dieselbe Vision zu Grunde liegt. Von den gleichen Händen erdacht, gegossen und aufgestellt, und wie Klaudijus Pudymas sagt, wird es sich hierbei sicherlich nicht um die letzte handeln.

Heute ist meine Mission eine andere. Ich soll dich und die anderen an die nostalgischen Zeiten erinnern, an einst wichtige Berufe und solche Errungenschaften wie die Schmalspurbahn, die später durch die Straßenbahn ersetzt wurde.

Du bist am Gehen? Dann gehe, eile davon. Soweit für dieses Mal. Danke, dass du dir Zeit genommen hast, mit einem alten Mann zu plaudern. Ich sehe immer gern solch angenehme Gesichter mit aufmerksamen Augen. Gute Reise und, wie ich hoffe, auf Wiedersehen!