Als ich das nasse Deck betrat, wollte ich sofort wieder zurück ins Trockene. Gut, dass ich es nicht tat. Mir wäre zwar der Kater am nächsten Tag erspart geblieben. Doch nur so kam es dazu, dass ich mit Bikern Schweineohren aß und auf einem Segelboot Sekt trank. Ein Geschichte von der Fähre nach Litauen – und vom Glück, zur richtigen Zeit am falschen Ort zu sein.
Die Kieler Förde sah an diesem Abend trostlos aus. Es war zwar kurz vor acht Uhr an einem Abend Anfang Juli, doch von der sommerlichen Abendsonne war hinter den grauen Wolken nichts zu sehen. Eine Stunde später sollte die Fähre zu ihrer knapp zwanzigstündigen Fahrt ins litauische Klaipėda ablegen. Derweil rangierten an der Auffahrt zum Schiff noch LKW. Einweiser und Fahrer brüllten sich durch den Maschinenlärm auf Russisch an. Ich sah ihnen von der Reling dabei zu.
Eine zufällige Begegnung
Über den Hubschrauberlandeplatz ging ich auf die andere Seite des Schiffs, um ins Innere zu gehen. Bei Wind und Regen wollte ich nicht draußen bis zur Abfahrt warten, wie ich es sonst immer mache, wenn die Fähre den Hafen verlässt. Beim Versuch, noch ein letztes Foto vom grauen Himmel zu schießen, sprach mich eine Frau auf Litauisch an. Unter ihrer weißen Jacke sah ich sofort das T-Shirt mit dem litauischen Wappen.
Da sie schnell merkte, dass meine sprachlichen Kenntnisse nicht für eine Antwort reichten, sprang sie in ein akzentfreies Deutsch über. Sie fragte, ob ich ein Video von ihr und ein paar anderen Leuten machen könnte. Ich willigte ein und sie erklärte mir ihren Plan: Heute sei Litauens Nationalfeiertag und man werde hier zu dessen Feier die Hymne singen. So machten es an diesem Tag jedes Jahr hunderte ihrer Landsleute. Um neun Uhr litauischer Zeit werde weltweit gesungen. Dafür komme gleich der Kapitän, außerdem die halbe Besatzung und eine Handvoll Passagiere.
Ein improvisierter Schiffschor
Tatsächlich füllte sich das Deck, während ich den perfekten Winkel für das Video suchte. Menschen in Uniformen, aber auch Passagiere in Regenjacken. Kurz darauf war es so weit: Über die Lautsprecher erklang die Hymne. Die rund zwanzig Menschen vor mir sangen fleißig mit, wenn auch nicht gleichzeitig. Am Ende des Lieds jubelten die Sänger. Dann ging das Schiffspersonal wieder zurrück zur Arbeit und die Passagiere flohen vor dem einsetzenden Regen ins Innere.
Auf dem Weg dorthin stellte sich mir die Organisatorin des Schiffschors als Dalia vor. Wie sich herausstellte, war sie nicht irgendeine Passagierin, sondern Präsidentin des weltweiten Verbandes für die Interessen von Auslandslitauern. Sie sei gerade auf dem Weg von Hamburg, wo sie wohnt, zu einem Sportwettbewerb im Süden Litauens. Die Chance, am jährlichen Singen zum Nationalfeiertag teilzunehmen, hätte sie sich aber auch auf der Fähre nicht nehmen lassen.
Das von mir gedrehte Video würde später im Fernsehen gesendet werden, sagte Dalia. Mit einem Lächeln lud sie mich, den Filmemacher, in die Schiffsbar ein. An einem Tisch in der Mitte nahm ich zwischen ihr und vier Männern in grünen T-Shirts Platz. Auf der Suche nach Sängern hatte Dalia die Gruppe auf dem Parkdeck abgefangen, wo sie gerade ihre Motorräder abgestellt hatten.
Snacken auf Litauisch
Nachdem wir auf Litauens Wohl angestoßen haben, redeten wir wortwörtlich über Gott und die Welt, außerdem über Olaf Scholz und Pride-Paraden. Ich hatte nicht gemerkt, dass wir schon beim dritten Bier waren, als mir einer der Biker auf die Schulter klopfte. „Hier, das musst du probieren!“, sagt er und reicht mir eine kleine Schachtel. Das, was ich probieren musste, sah wie knorpeliger Speck aus. Und so schmeckte es auch. Ein landestypischer Snack, erzählte man mir, nachdem ich schon probiert hatte: „Geräucherte Schweineohren. Aber die hier sind viel zu dick geschnitten!“
Die Fährfahrt sei die letzte Etappe ihrer Reise, erzählten die Biker. Bereits seit einigen Jahren führen sie im Sommer auf Motorrädern durch die Welt. Gemeinsam seien sie schon in Italien und Spanien gewesen, aber auch in der Ukraine und den USA. Dieses Jahr waren sie bis in die Alpen gefahren.
Die Bergstraßen seien furchtbar schön gewesen – doch die Schweizer auch furchtbar langsam, beschwerte sich einer der Biker. Während er mir auf dem Handy die Strecke zeigte, haftete mein Blink auf seinen Händen. Anhand deren Bräunung mutmaßte ich über die Form seiner Handschuhe.
Es war schon spät am Abend, als die letzte Runde in der Bar verkündet wurde. Die Biker luden mich auf einen Absacker ein. Trotz meiner Müdigkeit stimmte ich zu. Wenig später saßen wir auf den unteren Betten ihrer Innenkabine. In der Mitte auf dem Boden stand der Rest des Proviants, den das Gepäck hergab: Eine Flasche deutscher Schnaps, polnische Würste, eingelegte Gurken und ein Bund Lauchzwiebeln. In dieser Nacht – war ich mir sicher – würden wir alle tief schlafen.
Katerstimmung auf hoher See
Der Bordlautsprecher riss mich ein paar Stunden später aus den Träumen. In drei Sprachen lud die Crew zum Frühstück. Von den Bikern sah ich am Morgen keine Spur – weder an der Schlange zum Buffet noch im Frühstücksraum. Um mich herum frühstückten Familien, ältere Pärchen und Lastwagenfahrer und plauderten müde vor sich hin.
Nach dem Frühstück erwachte an Bord allmählich das Leben. Ziellos ging ich über die Decks, streifte durch die Bars und Gänge, am Bord-Shop vorbei und schließlich ins Bistro. Es roch nach Kaffee und Chlorreiniger. Im Fernseher lief ein Tennisspiel vom Vortag. Nur wenige Stühle waren besetzt. Da die Sonne mittlerweile schien, ging ich auf das Außendeck. Dort führten einige Gäste ihre Hunde aus, andere hatten auf dem Hubschrauberlandeplatz ihre Decken ausgebreitet und sonnten sich.
Die Möwen, die uns entgegenflogen, kündigten am Nachmittag die Ankunft in Klaipėda an. Als wir die Küste erreichten, tauchten neben mir grüne T-Shirts auf. Erst jetzt hatten es die Biker wieder ans Tageslicht geschafft. Während der Einfahrt zeigt mir einer der Männer den Hafen: die Docks, die Speicher, die einzige baltische Bootswerft und natürlich Litauens ganzen Stolz, das Flüssiggasterminal. „So eins, das ihr jetzt auch wollt“, sagt er zu mir und lächelte schelmisch.
Von Boot zu Boot zu Boot
Kurze Zeit später legten wir an. Fußgänger verließen die Fähre als erste, daher musste ich mich beeilen. Kurz bevor ich ging, tauschten Dalia und ich Kontakte aus. Sie würde den Abend bei einer Freundin in Klaipėda verbringen und vielleicht ergäbe sich etwas. In der Tat sahen wir uns später am Yachthafen wieder. Auf einer großen Bühne spielte sich eine Band für das Jazz-Festival warm.
Als ich zur Bühne gehen möchte, um mir einen Platz zu sichern, riefen mich Dalia und ihre Freundin Ieva zurück: „Komm mit! Vom Balkon hört man besser.“ Da nirgendwo ein Haus zu sehen war, wurde ich stutzig, folgte den beiden aber wortlos zum Segelhafen. Der „Balkon“ war das Deck der Ambersail 1. Das Sportsegelschiff hatte 2009 für Litauens Tausendjahrfeier die Welt umsegelt. Heute lag sie in Klaipėda an und wurde zur Tribüne. Für uns, den Jazz und Champagner aus Plastikbechern.
Als ich nach oben blickte, sah ich die Masten der Segelboote sich im Abendrot wiegen. Ieva erzählte mir derweil von ihrem Beruf als Kommunikationsspezialistin. Einer ihrer Kunden war die Mannschaft, die mit der Ambersail zur See fuhr. Für den nächsten Tag lud sie mich ein, den Start einer Regatta im Fotografenboot live mitzuverfolgen. Ich nahm dankend an.
Innerlich kicherte ich diebisch beim Gedanken an die Zufälle, die mich hierher geführt hatten. Auch das nächste Mal, schwor ich mir, würde ich vor der Abfahrt der Fähre wieder an Deck gehen. Regne es, wie es wolle.
Informationsquelle nordisch.info